Zweites Treffen des Arbeitskreises „Präbiotische Chemie“
am 2. März 2023 an der Universität Hohenheim

1) Extraterrestrischer Eintrag von präbiotischen Molekülen
Alessandro Airo
Jeden Tag erreichen etwa 100 Tonnen kosmisches Material die Erdoberfläche. Der bei weitem größte
Anteil dieser Masse entfällt auf submillimeter große Staubpartikel, die stetig in unserem
Sonnensystem gebildet werden, z.B. durch Asteroidenkollisionen oder Kometensublimation. Dieser
kosmische Staub besteht neben silikatischen Komponenten auch aus organischen Molekülen.
Unabhängig von der Wichtigkeit dieses Materialeintrags für den Ursprung des Lebens auf der Erde,
gibt er uns einen Einblick in die Vielfalt der organischen Chemie in unserem Sonnensystem.
Im Rahmen des ERC geförderten Projekts NoSHADE (Novel perspectives on our Solar System History
recorded in the Atacama Desert) ist es das Ziel den kosmischem Eintrag von organischem Material über
die letzten 10 Millionen Jahre zu erforschen. Die Atacamawüste stellt ein potenziell ideales Reservoir
für dieses Material dar, denn die trockenen als auch nahezu sterilen Bedingungen in den
Wüstensedimenten ermöglichen die Erhaltung der Organik über geologische Zeiträume.

Sedimente in der Atacamawüste – Ein Fenster in die Vergangenheit. (Foto: Airo 2017)

2) Entwicklungen in der Eis- und Kometenchemie
Jan Hendrik Bredehöft
Sehr lange wurde angenommen, dass die organischen Moleküle die für eine Entstehung des Lebens
nötig sind, aus dem All auf die junge Erde importiert wurden. Der Hauptgrund für diese Annahme war,
dass die Zeitspanne zwischen den letzten potentiell global sterilisierenden Einschlägen des Late Heavy
Bombardment und den ersten Fossilien einfach zu kurz erschien um den gesamten Prozess der
chemischen Evolution, der Entstehung des Lebens und der Entwicklung hin zu Organismen, die fossile
Spuren hinterlassen können, zu bewerkstelligen. Die Analyse von Meteoriten, die sehr reich an
organischer Chemie sind, bot weitere Unterstützung für den Ansatz des Imports an Organik auf die
junge Erde. Dieser Ansatz war jedoch nie ohne Schwachpunkte. Zum einen ist die Frage nach der
Herkunft der Händigkeit der Biomoleküle nie endgültig geklärt worden, und zum anderen braucht es
für die Entstehung des Lebens lokal sehr hohe Konzentrationen an organischen Molekülen, die es
durch Eintrag von außen in einem globalen Ozean so wohl nicht gegeben haben kann.
Inzwischen haben wir nicht zuletzt durch die Arbeiten von Christian Mayer und Ulrich Schreiber gute
geochemische Modelle für die Entstehung von organischen Substanzen und Vorläufern von Zellen auf
der Erde, die einen Eintrag von Organik aus dem All unnötig machen. Auch scheinen für diesen Prozess
deutlich kürzere Zeiträume nötig als lange angenommen, so dass der ursprüngliche Grund für die
Suche nach außerirdischen Quellen unserer Organik Stück für Stück entfällt. Dennoch ist die Analyse
von Kometen und interstellarem Staub ein wichtiges Feld der präbiotischen Chemie. Denn auch ohne
dass die so entstandenen Moleküle notwendigerweise direkt zur Entstehung des Lebens geführt
haben, zeigen sie dennoch durch ihre frappierende Ähnlichkeit zu eben jenen Molekülen, die das Leben
ermöglichen, dass es unabhängig vom Entstehungsweg einen gewissermaßen „natürlichen“ Zielpunkt
chemischer Evolution gibt, der nicht spezifisch für unser Sonnensystem oder gar die Erde ist. Das
Studium dieser Chemie auf Kometen und in Eismänteln auf Staubkörnern bietet uns ein Fenster in eine
Zeit in der „Natur“ noch nicht gleichbedeutend war mit „Leben“, wie jetzt auf der Erde. Da dieser
Zustand einer unbelebten Natur zumindest in unserem Sonnensystem der Normalzustand ist und auch
auf der frühen Erde war, kann uns dessen Erforschung wertvolle Erkenntnisse über die Welt geben, in
der das Leben einst entstanden ist.

3) Thermische- und Photo-Stabilität chemischer Biosignaturen
Alexander Engel, Bettina Haezeleer, Diana Pieger, Henry StrasdeitDie Suche nach extraterrestrischem Leben im Sonnensystem birgt einige Herausforderungen bezüglich
der eindeutigen Identifizierung von Biosignaturen: Zum einen könnte bei abiotisch entstandenen
organischen Molekülen fälschlicherweise ein biologischer Ursprung vermutet werden (falsch-positiv),
zum andern könnten tatsächliche chemische Rückstände von Leben für abiogen gehalten werden
(falsch-negativ)¹. Um solchen Fehlinterpretationen vorzubeugen, sind sowohl Erkenntnisse über die
präbiotische Entstehung organischer Moleküle als auch über die Zersetzung und möglichen Zersetzungsprodukte
von Biomolekülen wichtig. Mars und der Eismond Enceladus gehören zu den interessantesten Zielen bei der Suche nach außerirdischen Lebenspuren. Auf Enceladus könnten unter
Strahlungseinfluss entstandene Rückstände von Mikroorganismen oder Biomolekülen auf der
Oberfläche oder in den Geysiren der Südpolarregion zu finden sein. Auf dem jungen, vulkanisch aktiven
Mars könnten zusätzlich thermische Prozesse zu stabilen Zersetzungsprodukten geführt haben, die
vielleicht heute noch nachweisbar sind. In beiden Fällen könnte die mineralische Umgebung als
schützende Matrix oder als Reaktionspartner Zersetzungsprozesse beeinflusst haben und sollte daher
in Simulationsexperimenten berücksichtigt werden.


Abbildung A zeigt IR-Spektren von Lecithin in einer NaCl-Matrix nach Behandlung bei verschiedenen
Temperaturen. Deutlich erkennbar ist die Entstehung des Pyrophosphat-Anions (*) bei 500 °C. Pyrophosphat
ist in Mineralen sehr selten und könnte somit eine sekundäre Biosignatur darstellen².
Abbildung B zeigt den UV-Abbau von Methylnicotinamidchlorid (MNA-Cl) in Abhängigkeit von der
Bestrahlungsdauer und der Probenpräparation (evaporativ unter Zugabe von THF oder Aceton als
„Antisolvent“ zur Kristallkeimbildung). Die unterschiedliche Zersetzungsgeschwindigkeit zeigt den
Einfluss der Probenpräparation, die allgemein bei Proben für Strahlungsexperimente (z. B. auf der ISS)
von Bedeutung sein dürfte. MNA+ dient als Modell für die Biomoleküle NAD(P)+. Der hier beobachtete
schnelle UV-Abbau lässt vermuten, dass diese Biomoleküle in entsprechender Strahlungsumgebung
nur sehr begrenzt als primäre Biosignaturen beständig sind.
¹) https://doi.org/10.3389/fmicb.2017.01622  ²) https://doi.org/10.1017/S1473550423000022

4) Rolle der Hydrophobizität von Aminosäuren bei der Beladung von RNA
Ulrich Schreiber

Für die Speicherung der Information über die Aminosäuresequenzen in den Peptiden ist ein
vermittelndes Molekül erforderlich gewesen, das einer einfachen Version einer tRNA entsprochen
haben muss. Diese Proto-tRNA wird für die Entwicklung der ersten Zelle vorausgesetzt. Die Bildung von
Vesikeln unter Bedingungen von Kaltwasser-Geysir-Systemen und unter Druck- und
Temperaturbedingungen, wie sie in ca. 1000 m Tiefe einer kontinentalen Kruste der jungen Erde
entsprechen, ist im Labor mehrfach nachgewiesen worden [1]. Bis zu 12 Aminosäuren können unter
hydrothermalen Bedingungen in der Kruste entstehen, wobei die Häufigkeiten in Abhängigkeit der
Bildungsbedingungen unterschiedlich sind. Die (hydrothermal bildbaren) hydrophoben Aminosäuren
Isoleucin, Valin, Leucin und Phenylalanin gelangen bei der Vesikelbildung in die Membran, während
die hydrophilen Aminosäuren Threonin, Serin, Prolin, Glutaminsäure, Asparaginsäure und Lysin im
Wasser der Tröpfchen verbleiben. Für die Proto-tRNA ist wie bei der heutigen tRNA von der Basenfolge
CCA an der Spitze des Akzeptorarms auszugehen. Durch die Hydrophobizität des Adenins kann die
Spitze in die Membran der Vesikelhülle eindringen und gelangt so in Kontakt zu den hydrophoben
Aminosäuren. Eine Verknüpfung an der 2‘-OH Position der endständigen Ribose im Rahmen des Geysir-
Zyklus ist hierdurch möglich. Eine spezifische Verbindung der entsprechenden Aminosäure in Bezug
zum Basentriplett des Anti-Codons kann mit der unterschiedlichen Hydrophobizität der Basen erreicht
werden. Je nach Base und ihrer Position auf dem Triplett ergeben sich unterschiedliche Werte für die
entropische Kraft, die im Zuge des hydrophoben Effekts zu einem unterschiedlich tiefen Eindringen des
Akzeptorarms in die Membran beiträgt. Mit entsprechenden Kombinationen der Basen werden sehr
fein abgestimmte Positionen des CCA-Arms in der Membran erreicht, wodurch unterschiedlich
hydrophobe Aminosäuren mit unterschiedlichen Positionen in der Membran (während eines
Druckabfalls mit Phasenwechsels des Gases) verknüpft werden. Liegen hydrophilere Basen am Anti-
Codon vor, reicht der CCA Strang nicht so weit in die Membran, sodass die hydrophilen Aminosäuren
aus dem Wasser der Vesikel an der 3‘-OH Position verknüpft werden.

Tab. 1 Die kanonischen Aminosäuren mit abnehmender Hydrophobizität nach Kyte und Doolittle.
Hydrothermal bildbare AS sind farblich hinterlegt. Bei den hydrophoben (hydrothermalen)
Aminosäuren ist die zweite Position des Anti-Codons an der tRNA (unterstes Ende) jeweils mit dem
hydrophoben Adenin (in Rot) besetzt. Die tRNAs der hydrophilen AS besitzen in dieser Position die
hydrophilen Basen G, U oder C.

 

Bei drei Kombinationen können keine Aminosäuren verknüpft werden. Sie entsprechen den späteren
Stop-Positionen. Durch die Krümmung der Vesikelhülle kann es bei ausreichend dichter Besetzung mit
den von der Innenseite des Vesikels in die Membran eingedrungenen Proto-tRNAs dazu kommen, dass
die Schleifen, die die Anti-Codons tragen, eng zusammenliegen. Das bietet die Gelegenheit, Templates
zu bilden, an die sich freie, komplementäre Nukleotide anlagern können. Im Zuge von weiteren
Druckschwankungen ist die Verknüpfung der Aminosäuren auf der einen Seite zu Peptiden möglich,
während die RNA-Bildung (Proto-mRNA) über die Templates auf der anderen Seite für die Speicherung
der Abfolge sorgt.

Hydrophobizität, die vom Anti-Codon vorgegeben wird. Nach Verknüpfung der Aminosäuren (hydrophobe AS gelb und rot, hydrophile blau und lila) mit der Proto-tRNA bildet sich ein Peptid durch Verknüpfung der Aminosäuren untereinander bei gleichzeitiger Trennung von den Proto-tRNAs. Die eng zusammenliegenden Anti-Codons bilden den Informationsspeicher für die Sequenz des Peptids und dienen als Template für eine Proto-mRNA, die durch Anlagerung komplementärer Nukleotide entsteht und sich anschließend abtrennt.


[1] Life 2017, 7, 3; doi:10.3390/life7010003

https://www.preprints.org/manuscript/202201.0364/v2

5) Ordnung und Komplexität in der präbiotischen Evolution
Christian Mayer

Eine einfache Betrachtung macht deutlich, dass die beiden Parameter Ordnung und Komplexität eineindeutige
Begleiter des biologischen Lebens darstellen: alle bekannten lebenden Strukturen überschreiten
in ihrer Komplexität den Wert des kleinsten bekannten Genoms (112 kbyte) und die Ordnung,
die den Sequenzen aller Makromoleküle der leben Zelle zugeordnet ist (ca. 0.3 K/(J mol)). Daher
sind in der präbiotischen Chemie Wege aufzuzeigen, die zu einer Zunahme von Ordnung und Komplexität
führen¹ (links). Der effizienteste Weg in diese Richtung besteht in einer molekularen Evolution, bei
der Mutations- und Selektionsprozesse zu einem schrittweisen Anstieg beider Größen führen (rechts).

Dieser Evolutionsprozess in Richtung geordneter und komplexer (und somit funktionaler) Strukturen
kann mithilfe von Ansätzen aus der statistischen Thermodynamik und unter Anwendung des Komplexitätsbegriffs
nach Kolmogorov für eine molekulare Evolution berechnet werden². Die Rechnungen
zeigen auf, dass eine gewisse Untergrenze für den Erhalt der Sequenz in der Mutationsphase nicht
unterschritten werden darf, andererseits aber eine gewisse minimale Veränderung für eine Selektion
nötig ist. Der Ansatz erfasst neben dem der Evolution auch alternative Prozesse, die ebenfalls zu einem
Anstieg von Ordnung und Komplexität führen. Ein Beispiel hierfür konnte bereits experimentell
nachgewiesen werden³.
¹) https://doi.org/10.3390/life10010005 ²) https://doi.org/10.3390/life13030603 ³) https://doi.org/10.3390/life12020145